Die Briten sind bekannt für vieles – Understatement, Teekultur, Wellies, das Wetter. Aber wenn im Juli die ersten Takte der „Proms“ durch die Radios und Wohnzimmer schwingen, wird klar: Es gibt Dinge, die selbst das zersplittertste Königreich vereinen. Und das, ohne dass jemand die Nationalhymne grölt.
Denn die BBC Proms, offiziell Promenade Concerts, sind nicht irgendein Musikfestival. Sie sind ein nationales Ritual. Seit 1895 werden sie jeden Sommer in der Royal Albert Hall in London zelebriert und sind ein Mix aus Hochkultur, kollektiver Rührung und musikalischer Weltklasse.
Das ganze Land hört zu. Und am Ende steht die berühmte „Last Night of the Proms an“. Ein Abend, an dem Menschen ihre Gartentörchen öffnen, Picknickdecken ausbreiten, Fähnchen schwenken und gemeinsam Beethovens „Ode an die Freude“ oder Edward Elgars „Pomp and Circumstance“ feiern, als gäbe es weder Streamingdienste noch Alexas Algorithmus-Playlists.
Wer jetzt an Operngläser und Champagner denkt, liegt nicht ganz falsch. Aber das eigentlich Berührende passiert nicht in der Royal Albert Hall, sondern im Vorgarten von Mrs. Wetherby aus Oxfordshire, auf den Wiesen von Yorkshire oder in einem kleinen Hinterhof irgendwo in Edinburgh. Proms Viewing im Garten ist der entspannteste, würdevollste und zugleich britischste Public Viewing Moment des Jahres.
Ein Picknick mit Haltung
Es beginnt meist gegen 18 Uhr. Tische werden gedeckt, Gartenschnüre mit kleinen Union Jacks bespannt, irgendwo klimpert ein Piano, oder zumindest ein Bluetooth-Lautsprecher, der klingt, als hätte er schon Elgar persönlich übertragen. Die Nachbarn bringen Pimm’s, Scones und Käsecracker. Die Kinder wissen zwar nicht, wer Sir Henry Wood war, aber dass man bei „Land of Hope and Glory“ aufsteht. Und dann stehen sie alle da. Im Garten. Unter dem Himmel, der fast immer ein bisschen zu grau ist für Juli. Und doch wird es allen ganz warm ums Herz.
Die letzte Nacht der Proms ist der emotionale Höhepunkt eines ganzen Sommers – musikalisch, gesellschaftlich, sogar diplomatisch. Dann verschmelzen in Großbritannien Stolz, Pathos und Picknick – und in den Vorgärten von Southampton bis zu den Shetland-Inseln wird mitgesummt.
Dass dabei Mozart, Bernstein, Puccini und Händel die Playlist bestimmen, stört niemanden. Im Gegenteil: Es ist dieser musikalische Bogen, der das Ganze trägt - von den schüchternen Tönen im Pianissimo bis zur finalen hymnischen Eskalation. Und genau diese Mischung aus Erhabenheit und Erdung ist es, die Proms Viewing im Garten so besonders macht.
Mit Perlencollier auf der Picknickdecke
Dresscode? Irgendwas zwischen Royal Ascot und Gummistiefel. Wer’s richtig macht, trägt Blazer zum Picknickkorb, Brosche zur Fähnchenkette oder eine rot-weiß-blaue Krawatte über dem Poloshirt – patriotisch, aber mit Augenzwinkern. Und ja, es gibt sie: die Gärten mit selbst gebasteltem Dirigentenstab, die Streber mit dem Proms-Programmheft auf dem Gartentisch, die Elder Ladies mit Perlencolliers und Thermoskanne. Es ist diese herrliche Mischung aus Understatement und Festlichkeit, aus echtem Musikempfinden und ironischer Britannia-Liebe, die man nur schwer erklären kann, aber sofort fühlt, wenn man mittendrin ist.
Wenn gegen 22 Uhr das letzte Musikstück verklungen ist, klatscht niemand allein. Man prostet sich zu. Man nickt souverän über den Zaun. Man stellt die letzte Frage des Abends: „Same time, next year?“ Und irgendwo in der Ferne schmettert noch ein Lautsprecher das Finale von „Jerusalem“.
Proms Viewing im Garten ist das musikalische Gegenmodell zum EM-Rudelgucken. Kein Trikot, kein Torjubel. Dafür Musik, Gemeinschaft – und das Gefühl, dass ein Sommerabend auch ganz leise laut sein kann.
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