In Wales gibt es ein Wort, das kein einfaches deutsches Gegenstück hat: Hiraeth. Es beschreibt ein Gefühl, das viele kennen, aber selten benennen können. Eine Mischung aus Sehnsucht, Heimweh, Traurigkeit und dem Wissen, dass etwas fehlt. Es geht dabei nicht nur um Dinge, die man verloren hat, sondern auch um das, was man nie hatte. Ein Zuhause, das es nicht mehr gibt. Ein Leben, das vielleicht anders verlaufen wäre. Oder ein Ort, an dem man nie war, der sich aber trotzdem vertraut anfühlt.
Das Wort setzt sich aus den walisischen Bestandteilen „hir“ für lang und „aeth“ für Schmerz oder Kummer zusammen. Es ist alt und taucht schon in früher walisischer Dichtung auf. Oft ging es dort um vermisste Menschen, um vergangene Zeiten oder um die Trauer über ein verlorenes Heimatgefühl.
Hiraeth ist tief verwurzelt in der walisischen Kultur. Wales wurde bereits im 13. Jahrhundert vom englischen König Edward I. erobert und gehört seitdem zum Einflussbereich der englischen Krone. Über die Jahrhunderte gingen viele Aspekte der walisischen Identität verloren oder wurden verdrängt. Auch die walisische Sprache war stark bedroht: Noch Mitte des 20. Jahrhunderts wurde sie in vielen Schulen unterdrückt. Heute hat sich das Blatt gewendet. Ein bedeutender Teil der Bevölkerung spricht vor allem im Norden des Landes wieder Walisisch. Und gerade bei den jungen Leuten erlebt die Sprache eine kleine Renaissance, auch weil sie als Symbol für Stolz und Zugehörigkeit gilt. Wer mehr darüber wissen möchte, findet weitere Informationen im Blogbeitrag „Walisisch – kein Kauderwelsch, sondern eine trendige Sprache“.
Es gibt andere Sprachen, die ähnliche Gefühle beschreiben. Das Portugiesische kennt Saudade (eine bittersüße Sehnsucht nach etwas Vergangenem), das Türkische Hüzün (eine kollektive Melancholie mit historischen Wurzeln), im Japanischen gibt es Natsukashii (ein sanftes Gefühl der Nostalgie beim Erinnern an schöne Momente). Doch sie alle erfassen nur annähernd, was Hiraeth bedeutet.“ Während Saudade oft mit stiller Akzeptanz verbunden ist, steckt in Hiraeth mehr Schmerz über das, was fehlt – oder nie war.
Hiraeth erinnert mich manchmal an das Gefühl, das uns überkommt, wenn wir alte Fotos durchblättern. Bilder aus einer Zeit, die nicht mehr zurückzuholen ist – von Menschen, die vielleicht nicht mehr da sind, von Orten, die sich verändert haben, oder von Momenten, die nur in unserer Erinnerung weiterleben. Dieses leise Ziehen im Herzen, das uns an das Vergangene bindet, obwohl wir wissen, dass wir dorthin nicht zurückkehren können – das kommt dem, was Hiraeth meint, sehr nahe.
In Wales begegnet einem das Wort in Liedern, Gedichten, auf Postkarten oder ganz beiläufig in Gesprächen. Manche fühlen es beim Anblick des Meeres, andere bei der Erinnerung an ein Leben, das hätte sein können. Hiraeth ist nicht nur traurig. Es hat auch etwas Schönes, etwas Weiches, etwas sehr Menschliches.
Vielleicht trifft es genau das, was viele manchmal spüren, ohne ein Wort dafür zu haben.
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