Ein Engländer, selbst wenn er allein ist, bildet eine ordentliche Ein-Mann-Schlange. Dieses Zitat von George Mikes, einem ziemlich witzigen britischen, aber aus Ungarn stammenden Autor, hat schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel. Es stimmt aber immer noch. Schlange stehen ist in England eine hohe Kunst. Wer sie nicht beherrscht, gilt als Rüpel und bekommt die ganze Wucht des Volkszorns zu spüren – in Form schweigender Verachtung.
Seit Jahren liest man in britischen Medien, es gehe bergab mit dem Benimm, beispielsweise beim Essen oder eben in der Warteschlange. Das können wir aber nicht bestätigen, denn bei jedem Besuch im Lande stehen wir mindestens einmal, meist öfter, in sehr gesitteten „queues“ (Aussprache: kjuhs). Es gelten geheime Regeln, die unbedingt zu beachten sind:
- Steht irgendwer vor einem an der Bushaltestelle, muss man höflich fragen: „Are you in a queue?“. Bejaht er oder sie, stellt man sich dahinter auf, und zwar genau so, dass man dem anderen nicht zu sehr auf die Pelle rückt, aber auch keine zu große Lücke lässt. Neuankömmlingen soll klar sein: Das hier ist eine Schlange.
- Es ist unzulässig, Platz für den Kumpel oder die beste Freundin freizuhalten.
- Ebenso geht es nicht, irgendein Objekt als Platzhalter hinzustellen, etwa eine Tasche (was heute sowieso dazu führt, dass jemand aus Angst vor Terror die Polizei ruft).
- Die Blickrichtung sollte jeweils dieselbe sein wie die des Vordermanns oder der Vorderfrau, um peinliche Blickkontakte oder gar Vertraulichkeiten auszuschließen.
- Im Allgemeinen wird wenig gesprochen, es sei denn, man hat seinen Gesprächspartner mitgebracht.
Auch bei uns ist es ein grober Fauxpas, sich an der Warteschlange vorbeizumogeln und vorn anzustellen. In England wird dies aber eher nicht durch wütende Zurechtweisung geahndet, sondern nonverbal:
- Die Übergangenen werden unruhig,
- scharren mit den Füßen,
- drehen sich tatsächlich um und
- werfen einander empörte Blicke zu,
- räuspern sich laut oder husten.
- Schaut der Delinquent in ihre Richtung, durchbohren ihn verächtliche Blicke.
Echte Schlangenhüpfer kümmert das natürlich nicht. So kommt es, dass jemand, der unverschämt genug ist fürs „queue jumping“, in England auch noch damit durchkommt. Aber die Form wahren im Angesicht der bodenlosen Frechheit – das hat irgendwie Stil.
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